23
Sep
2008

Im Morgengrauen

Einsame_Frau_am_Fenster

Im blassen Morgenlicht, in den dunklen Raum
verwoben, die Silhouette einer einsamen Frau
am Fenster, den Kopf schlaftrunken im Traum
gefangen, dessen Gespenst, müde und grau,
bettschwer in sein finsteres Versteck schlurft.

Am frühen wolkenverhangenen Himmel kreist
ein schwarzer Vogel, Bote aus einem fernen
Land jenseits der Wolken. Der Weg verwaist,
der sie wegführt, hin zu den silbernen Sternen.
Ach, hätte es wirklich all des Schmerzes bedurft?

Nichts mehr zu fühlen, ohne Furcht, Verlangen
oder Begierde zu sein. Kein Wunsch oder Wille
hält die Frau noch in Raum und Zeit gefangen.
In Gedanken flieht sie weit weg in die ferne Stille,
befreit von dem Dasein, das sie einst bedrückt.

Sie öffnet das Fenster, atmet ein letztes Mal
die frische Morgenluft. Sie breitet die Arme aus.
Und während sie fortfliegt aus dem Jammertal,
weht ihr letzter Atem leise in den Tag hinaus.
Und schon ist ihre Seele Zeit und Raum entrückt.

(Bild: A. Woizechowski, Sehnsucht)
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22
Sep
2008

Unendlich (Akrostichon)

Roerich

Wie ein Wassertropfen
Auf dem heißen Stein
So scheint unser Leben

So begrenzt und klein
Ein ganz kurzer Traum
Rasch zu Ende eben

Trost erfährt ein Tropfen
Ruhend auf dem Stein
Ohne trüben Sinn

Planvoll tanzt er fein
Fast unsichtbar klein
Einst zur Wolke hin

Neues leichtes Leben

(Bild: Nicholas Roerich, Tropfen des Lebens)
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21
Sep
2008

Essenz

fragonard

Worte voll Wehmut, herbstlaubgolden aufs Papier gebracht,
bin müd und matt vom Ringen, dichterisch zu schreiben,
war dort im Traum verlorn, bin hier in Klarheit aufgewacht,
der Traum entfloh, das Wort und die Gedanken bleiben.

*

Worte auf Papier
dichterisch schreiben,
war dort, bin hier,
die Gedanken bleiben.

*

Worte schreiben
Gedanken bleiben

(Bild: Jean-Honoré Fragonard, Lesendes Mädchen)
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20
Sep
2008

Dilemma

Macke

Des Einen Augen, ach, die klaren, blauen,
sie leuchten hell in meiner Seele Tiefe.
Sie wachten sorgsam, wenn ich unruhig schliefe,
und wär ich blind, sie würden für mich schauen.

Des Andern Haare, weich wie schwarze Seide,
wie Mondlicht fallen sie auf meine Brüste.
Wenn ich sie streichelte und innig küsste,
wär jede Nacht ein Fest, nur für uns beide.

Im Spiel der Liebe gibt's zu viele Karten,
musst oft vergeblich auf den König warten.
Nun sind es zugleich zwei, die mich betören.

Der Eine sehr vertraut in langen Jahren,
der Andre lieb und fein und so erfahren.
Kann ich nicht einfach beiden Liebe schwören?

(Bild: August Macke, Zwei Männer mit Frau)
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19
Sep
2008

Das Leben ist kurz

Michelangelo

Die Zeit verfliegt mit jedem Tag.
Das Leben - nur ein Wimpernschlag.
Kaum schlägt uns unsre erste Stunde,
beginnt bereits die letzte Runde.

Wir sind auf Erden nur zu Gast,
sind voller Hetze, voller Hast,
jammern und klagen ob der Sorgen,
verschieben unser Glück auf morgen.

Das Glück ist ein zerbrechlich Ding.
Wer schon einmal am Galgen hing
und dem auf einmal riss der Strick,
betrachtet dies als großes Glück.

Das Glück ist auch Gitarrenklang,
ist Rosenblüte, Vogelsang,
ein Sonnenuntergang am Meer,
die Mythenwelt von alters her,

David von Michelangelo,
des eignen Herzens Romeo,
ein gutes Wort, ein Katzenkind,
ein Auge, das vor Liebe blind.

Zu Gott zu beten, das ist Glück,
dann kommt das Gute auch zurück,
den Kopf zum Himmel zu erheben
und ihm zu danken für das Leben.

Drum lasst uns jeden Tag genießen
im Land, wo Milch und Honig fließen.
Doch lasst uns eines nicht vergessen:
Nicht jeder hat genug zu essen!

(Bild: Michelangelo Buonarroti, David)
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18
Sep
2008

Das Pflänzchen Hoffnung

Pflanze

Einst gab mir der Herzliebste mein
zu früher Stund als Morgengabe
ein Samenkörnchen winzig klein,
's ist alles, was ich von ihm habe.

Drauf las ich still ein weises Buch,
wie solch ein Pflänzchen wird geboren.
Ich tränkte fein ein weißes Tuch,
das ich zum Bettchen auserkoren.

Im schönen Wonnemonat Mai
begann's zu keimen, sich zu regen,
mein Pflänzchen reckte sich, war frei
und konnt im Bettchen sich bewegen.

Ein Blumentopf, nur nicht zu klein,
gefüllt mit Vogelsand und Erde,
sollt meines Pflänzchens Heimstatt sein,
auf dass es groß und kräftig werde.

Ich hegte es ganz liebevoll,
begann's zu düngen und zu gießen,
dass es gedieh und wuchs wie toll.
Konnt seinen Anblick nun genießen.

Vom Stamm, gerade, voller Kraft,
vielfach die Triebe sich verzweigten,
gen Himmel wuchsen zauberhaft,
sich wonnig hin zur Sonne neigten.

Es trug ein dunkelgrünes Kleid
aus schmaler, fein gezackter Spitze.
Und bald begann die Blütezeit
in großer schwüler Sommerhitze.

Zahllose Dolden dicht an dicht
mit langen weißen Blütenfädchen.
Ihr duftend Harz mir Trost verspricht,
hab Dank, mein liebes Pflanzenmädchen.

Ach, mag auch der Herzliebste mein
in sieben fernen Himmeln schweben,
ein Samenkörnchen winzig klein
wies mir den Weg zu neuem Leben.

(Bild: Hanspeter Schweizer)
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Katzenjammer

marc2

Liebes Miezchen, kleines Fellknäuel,
blickst mir zärtlich in die Augen,
streichst mir fröhlich um die Beine,
leckst dir's Mäulchen, sagst Miau.

Ach, mein Miezchen, wenn du wüsstest,
wie sie leiden, deine Schwestern,
die der Geldgier böser Menschen
wehrlos ausgeliefert sind.

Schrei der Angst und des Entsetzens -
festgebunden in Laboren,
vollgestopft mit Chemikalien,
mit Elektroschocks traktiert.

Eingefangen von Verbrechern,
zieh’n das Fell über die Ohren
deinen armen kleinen Schwestern,
denn das bringt so viel Profit.

Züchten nackte kahle Katzen
für den Mensch mit Allergien,
züchten Perser, schneeweiß, flauschig,
die schon blind geboren sind.

Arme kleine Katzen, zitternd,
hungernd irren durch die Straßen,
ohne Heimat, ohne Futter,
weil ihr Mensch in Urlaub fuhr.

Und will helfen, will sie retten,
treffe nur auf harte Herzen,
blinde Augen, taube Ohren -
Mensch, elende Kreatur!

Komm, mein Miezchen, lass dich kraulen.
Will dich lieben und verwöhnen,
will dir ein Zuhause geben.
Tropfen auf dem heißen Stein...

(Bild: Franz Marc, Mädchen mit Katze)
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17
Sep
2008

Inmitten von Leben, das leben will

rudolf-epp

Schlachten, grausame Geschichte,
blutgetränkt sind die Berichte,
Tiere metzeln ohne Reue,
dass der Gaumen sich erfreue.

Doch wir werden nicht verzagen,
wollen "Nein!" zum Morden sagen.
Keiner soll mehr für uns töten,
dieses Tun ist nicht vonnöten.

Kälbchen, eingepfercht im Stalle,
tappst jetzt nicht mehr in die Falle,
wetzt der Metzger auch sein Messer,
wenn es rostet, geht’s dir besser.

Schweinchen, sollst dich sicher fühlen,
sollst vergnügt im Stroh rumwühlen,
wer auf Tofu ist versessen,
der kann Wurst und Speck vergessen.

Lämmchen, sollst in Ruhe weiden,
keine Todesqualen leiden,
denn es kochen zig Millionen
ohne dich die grünen Bohnen.

Fischlein auf dem Meeresgrunde,
drehe sorglos deine Runde,
musst dich nicht im Schleppnetz quälen,
weil wir Reis als Mahlzeit wählen.

Ich bin Leben und will leben,
unser Schöpfer hat’s gegeben,
um uns reichlich zu beschenken,
und das sollten wir bedenken.

(Bild: Rudolf Epp, Lamm)
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16
Sep
2008

Nomen est Omen

Pferd, so nennen mich, die Amazone, die Chinesen.
Erleuchteter Bierkutscher war mein Großvater gewesen.
Talentiert und fröhlich sein Sohn Carl von Anfang an.
Ruth, sie war so schön, dass sie sein Herz sogleich gewann.
Alkohol zerstörte Mutters Schönheit und Verstand.
Nachts im kalten Januar die Flucht ins fremde Land.
Amazonenkind, es wandert seither zwischen Welten.
Mutig, optimistisch, siegreich, wehrlos nur ganz selten.
Yang die Sonne, die es wärmt, und Yin sein kühler Schatten.
Streift durchs Leben voller Neugier, ohne zu ermatten.
Liebt die Menschen unbeirrt, schlägt ihm auch Hass entgegen.
Ohne Zweifel weiß dies Kind: Das Leben ist ein Segen!
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Verlorenes Paradies

Halbe Frau

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